Neujahrssingen – Kalanda
Es ist wieder Zeit für einen Repost: Die Neujahrs-Kalanda. Oft werde ich gefragt: wie ist es eigentlich im Winter in Ikaria zu leben? Die Kalanda sind ein gutes Beispiel für die ungebrochene Lebensfreude und den Gemeinschaftssinn unseres Dorfes.
Kalanda nennt man in Griechenland das traditionelle Liedgut der Feiertage. Vor allem werden sie am 24. und 31. Dezember von Kindern gesungen, die von Haus zu Haus ziehen um Glück zu wünschen. Beim Eintreten wünschen sie: „Chronia polla!“ (Lang sollt ihr leben!). Nach der Frage: Na ta pume? („Sollen wir vortragen?“), legen sie los, begleitet von scheppernden Triangeln, manchmal auch von Flöten und kleinen Handtrommeln. Dafür erhalten sie Süßigkeiten und ein paar Münzen.
Ein besonderer Tag, der 1. Januar
Der erste 1. Januar ist ein ganz besonderer Tag in meinem Dorf, in Ag. Dimitrios. Die Tische werden gedeckt und die Häuser geöffnet, damit das ganze Dorf gemeinsam den ersten Jahrestag begehe, in die Häuser einkehre und den Besitzern ein gutes neues Jahr wünsche. „Na ta pume?“ (Sollen wir für euch singen?) Wird immer beim Eintreten mit vielen guten Wünschen gefragt und danach die Kalanda gesungen. „Kali chronia!“ (ein gutes Jahr!) wünscht man sich.
Leider finden die Kalanda dieses Jahr wegen zwei tragischen Todesfällen in meinem Dorf nicht statt. Das bedeutet, dass einige Familien in Trauer sind und die anderen aus Mitgefühl nicht die pure Freude durchs Dorf tragen und feiern wollen. Alle Familien werden diesen ersten Januar ruhig bei sich zuhause begehen und im kleinen Rahmen die Vasilopita, den Neujahrskuchen mit der Glücksmünze anschneiden. Ich möchte euch aber trotzdem den eindrücklichen Bericht von Peter nicht enthalten. Wenn seine erste Kalanda auch schon ein paar Jahre zurückliegt, so ist seine Beschreibung doch aktuell und fängt wunderbar die Atmosphäre ein.
Χρόνια πολλά! Καλή χρονιά! Prost Neujahr!
Neujahrsbotschaft „insulae et amicis“ Ein Brief an Freunde geschrieben am 1.1.2013 von Peter Rütten, Ikaria-Deutschland
Wes das Herz voll ist… Und es ist immer noch derart voll, dass ich achtgeben muss, dass der Mund nicht allzu ungezügelt überläuft; denn was wir am Neujahrstag hier erlebt haben, war so außergewöhnlich, dass es (samt unserer Begeisterung) unglaubwürdig erscheinen könnte. Ihr dürft also getrost einige Prozente für Alterssentimentalität und Hellenophilie abziehen; der verbleibende Rest ist immer noch der Rede wert!
Ich hatte im Vorfeld des zu schildernden Ereignisses bereits einen flapsigen Sechszeiler in Vorbereitung, der euch natürlich nicht erspart bleibt:
An Neujahr streben wir hinaus;
dann zieht man hier von Haus zu Haus,
nimmt hier ein Häppchen, dort ein Gläschen,
singt, tanzt und treibt auch seine Späßchen,
bis satt und glücklich Mann und Frau – dann ist das ganze Dörfchen blau.
Dann aber kam der Neujahrstag selber. Freunde hatten uns eingeladen, an dem bedeutendsten Ereignis des örtlichen Festjahres teilzunehmen, und so trafen wir uns gegen 13 Uhr mit vielen Einwohnern des Dörfchens Agios Dimitrios im Gemeindesaal, wo der Pope nach salbungsvollen Worten und Gesängen das riesige Neujahrsbrot segnete, das hernach verteilt wurde. Kinder erhielten kleine Geschenke; es wurde musiziert und Neujahrslieder gesungen.
Nach diesem Eröffnungszeremoniell begann der Neujahrsumgang, an dem sich ein großer Teil der Bewohner beteiligte. Hierzu standen die Häuser offen und man zog, nach einem für uns undurchsichtigen Zeit- und Streckenplan, von einem zum anderen. Beim Eintreffen im jeweiligen Haus stimmten die mitgeführten Musikanten ein traditionelles vielstrophiges Lied an und alle sangen lauthals und freudig mit. Wir haben den Text zwar kaum verstanden, aber uns wurde erläutert, dass es sich um fröhlich-spöttische Verse handelte, die auch an die Situation und die jeweiligen Gastgeber angepasst und durch lustvolles Improvisieren erweitert wurden.
In jedem der Häuser waren die Tische überreich mit kleinen Leckereien gedeckt und auch mit dem vielfach selbst gekelterten Wein wurde nicht gegeizt. Zum Schluss tanzte man und nach etwa zwanzig Minuten zog man weiter zum nächsten Haus. Hierzu muss man wissen, dass sich in Agios Dimitios die Häuser nicht wie in unseren Dörfern um die Kirche versammeln, sondern weit verstreut in Öl- und Obstgärten in einem zerklüfteten Gelände liegen, so dass oft auch größere Entfernungen zu überwinden waren.
Wir haben leider versäumt, mitzuzählen, schätzen aber, dass wir im Laufe des Nachmittags und der Nacht in mindestens vierzig Häusern zu Gast waren. Nach ihrer Heimsuchung zogen die entsprechenden Hausbewohner übrigens selber mit, so dass der Zug immer länger wurde und gegen Ende nur noch ein kleinerer Teil in den Wohnungen Platz fand; aber wer vor der Tür bleiben musste, wurde trotzdem von innen versorgt und vergnügte sich auf seine Weise. Marlies konnte irgendwann nicht mehr auf den Beinen stehen, aber der Schreiber hat bis morgens um vier durchgehalten, konnte danach vor Gefühlsüberschwang nur schwer einschlafen und weder er noch das Dörfchen waren, wie fälschlich angenommen, „blau“.
Es ist bemerkenswert, dass sich neben den zu erwartenden älteren Griechen auch sehr viele Jugendliche und Kinder bis in die frühen Morgenstunden am Umzug beteiligten und dass einige der Gastgeber zu den auf der Insel nicht eben seltenen, hochverehrten Neunzig- und Hundertjährigen gehörten (siehe dazu Blue Zones). Auch Größe und Ausstattung der Häuser reichte von der ärmlichen Wohnküche bis zur vergleichsweise geräumigen und aufwendig möblierten Villa.
Der beschriebene Brauch existiert auch in anderen Dörfern Ikarias, aber dort besucht man sich wohl nur innerhalb abgegrenzter Familien- und Freundeszirkel. Dass sich alle Dorfbewohner in derart egalitärer Form daran beteiligen, ist hingegen eine Besonderheit von Agios Dimitrios, und seine Bewohner sind zu Recht sehr stolz auf diese jährlich stattfindende Bestätigung ihres Gemeinwesens. Wir hatten den Eindruck, dass sie es diesmal auch noch zur trotzig-stolzen Selbstbehauptung in krisenhafter Zeit nutzten. Und bei aller unverhohlenen Merkel-Antipathie begegnete man uns als Ξένοι (Kseni, Fremde) überaus freundlich und vorurteilslos.
Im Verlauf dieser vielen Stunden haben wir uns immer wieder die rhetorische Frage gestellt, ob ein analoges Ereignis auch auf deutschem Boden vorstellbar wäre!? Bitte widersprecht uns, wenn ihr könnt. Ansonsten erzählt darüber bei allen Dummschwätzern, die den Griechen zeigen möchten, wie gelebt werden müsse. Nehmt’s am besten auf in die Liste der guten Vorsätze fürs neue Jahr! Inzwischen grüßen wir euch herzlich, Marlies und Peter.
Anmerkung von Ursula: Die Häuser werden geöffnet, damit das ganze Dorf gemeinsam den ersten Jahrestag begehe. Alle werden gastfreundlich verköstigt. Zwei Tage wird in jedem Haus nur für diesen Anlass gekocht, und die Hausfrauen geben alles, denn man möchte natürlich nur das Beste auftischen. Die traditionellen Lieder nennen jedes Familienmitglied beim Namen und verherrlichen einen nach dem anderen alle Familienmitglieder, Vater, Mutter, Tochter, Sohn etc. es wird auf die Festigkeit der Grundmauern des Hauses und auf das Wohl der Familie, auf ihre Gesundheit, auf ihre Zukunft, je nach dem ihre Hochzeit oder ein zukünftiges Kind getrunken und auch liebevoll zynisch angespielt. Immer mit dem Refrain…
Βάλτε μας κρασί να πιούμε! και του χρόνου να σας πούμε!!!!
(Valte mas krasi na piume! Kai tu chronu na sas pume!)
Gebt uns Wein zu trinken! Damit wir auch nächstes Jahr wieder auf euer Wohl singen!
Video Kalanta in Agios Dimitrios Raches Ikaria 1.1.2013 vom Radiosender Ikaria
Fotos Kalanta Agios Dimitrios Raches Ikaria 1.1.2013 vom Radiosender Ikaria
Meinen ganz herzlichen Dank an Marlies und Peter, dass sie mir diesen Brief zur Verfügung gestellt haben! Ich hätte die Atmosphäre nicht besser einfangen können!