In Ikaria ticken die Uhren anders.

Ikaria gehört zu den Blue Zones, auch schon davon gehört? Das sind Orte, in denen Senioren mit Elan und Vitalität bis in ein biblisches Alter leben. Dan Büttner, ein amerikanischer Gesundheitsguru hat den Begriff Blue Zones geprägt und zusammen mit National Geographic in Ikaria mehrere Studien durchgeführt. Aber dazu komme ich weiter unten. Erst einmal ein paar Worte zur Insel selbst, denn ihre Geschichte hat massgeblich das Lebensgefühl der Bewohner geprägt.

Ein alter Mann sagte einmal zu mir: „Sie ist wie eine schöne unbekannte Frau.“ Sie die Insel. „Zuerst erscheint sie einem abweisend und unnahbar, aber macht man sich die Mühe auf sie zuzugehen, wird man erst ihrer unglaublichen wilden Schönheit gewahr und erliegt sofort ihren Reizen!“

Die schöne Unbekannte

Blue Zones Ikaria die schöne Unbekannte

Ich hör sie schon die Unkenrufe: Bloß keine Werbung machen! Wenn du darüber schreibst, dann wird sie bekannt und dann ist sie nicht mehr schön!

Ja klar, sag ich, am besten keinen Flughafen, keine Asphaltstraßen, kein Strom, kein Internet. Die Einheimischen sollen das ganze Jahr wie vor 100 Jahren leben, (und zwar von Luft und Liebe, denn von Fischerei und Landwirtschaft kann man nicht mehr überleben!) damit ihr einen coolen Geheimort für zwei Wochen Urlaub habt! Die Arbeitslosigkeit, die Abwanderung der Jugend? Wie? Aber spätestens wenn jemand von euch einen Arzt braucht, findet ihr die „hinterwäldlerischen Zustände“ auch nicht mehr lustig…

Sorry, genau deswegen schreibe ich und mache Werbung für Ikaria! Denn die Gefahr, dass Ikaria jetzt vom Massentourismus überrannt wird, ist meiner Meinung nach sehr klein. Allein schon Anreise wegen. Man muss sich wirklich die Mühe machen, hierher zu wollen und einige Kompromisse eingehen. Das tut eh nur wer bereit ist in der gewohnten All-inclusive-Welt Abstriche zu machen.

Also sind wir wieder unter Gleichgesinnten, Natur- und Kultur-Liebhaber, Fans des ursprünglichen Griechenlands, welche die lokale Bevölkerung und ihre ganz besondere Lebensweise schätzen und respektieren.

Ein Stück authentisches Griechenland

 

Ikaria ist das gemütliche unverfälschte Griechenland der 1970er. Die Menschen sind einfach, anfangs scheu, aber schnell offen und herzlich, und sie freuen sich immer über ein Schwätzchen, auch mit Touristen. Hier erlebst du noch den direkten Kontakt mit den Einheimischen und das nimmer endende Original-Nachtleben, oft mit Live-Musik in gemütlichen Tavernen, auf den Dorfplätzen an den Panigyria oder einfach unplugged in den kleinen Bars wie in guten alten Zeiten…

Jeder Tag ein Fest

 

 

Blue Zones Traditionelle Tanzfeste

Das gemeinsame Tanzen und die Ausgelassenheit sind keine Folklore, sondern gelebtes Brauchtum, und by the way, einfach ansteckend! Ikaria ist für seinen von Festlichkeiten geprägten Alltag weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden. Die Panigyria/ traditionellen Tanzfeste, werden von allen Generationen gemeinsam gefeiert und sind bis heute der Mittelpunkt allen kulturellen Geschehens. Die Lebensweise, die Musik und das Lebensgefühl ist aufgrund der geographischen Lage von der mediterranen wie von der orientalischen Kultur beeinflusst.

Ikaria hat etwas Magisches.

Es bietet sich nichts auf dem Präsentierteller, alles offenbart sich dem Interessierten erst allmählich, auch die Menschen. Dafür findest du dich auf einmal in einer ganz anderen Welt wieder, einer in der die Natur, der Mensch und allem voran die Lebendigkeit im Mittelpunkt stehen.

Die Pirateninsel

 

 

 

Blue Zones Versteck vor den Piraten, Foto Ursula

Ikaria ist eine bergige Insel in der Ost-Ägäis, nahe der türkischen Küste, etwa so groß wie der Bodensee und der höchste Berg geht auf 1100m ü. M. Die Südseite ist felsig, karg und steil abfallend, jedoch die Nordseite wasserreich üppig, fruchtbar und grün.

Mit einer Bevölkerungszahl von 8000 Einwohnern nicht gerade dicht besiedelt. Genauer gesagt, muss man beim ersten Aufenthalt die versteckten Bergdörfer richtiggehend in der Landschaft suchen. Bei einem Ausflug ins dicht bewaldete Hinterland findet man meist nur eine handvoll Häuser rund um den Dorfkern und denkt sich: „Ist das schon alles?“ Das restliche Dorf ist so zu sagen unsichtbar. Das hat den Einwohnern im Mittelalter, als die Piraterie in der Ägäis epidemische Ausmaße angenommen hatte, das Leben gerettet. Während andere Inseln von Piraten regelrecht entvölkert und die Menschen an die Sklavenmärkte verschleppt wurden, versteckten sich die Einwohner Ikarias in den Bergen, tarnten ihre Häuser hinter riesigen Felsbrocken und machten sich einfach unsichtbar.

Ein Haus mit Meerblick war damals tödlich. Das ging so weit, dass der gesamte Hausrat bei Piratenalarm hinter dem Haus vergraben wurde, um den Eindruck der Verlassenheit zu erwecken. Deshalb findet man auf der ganzen Insel nirgends traditionelle Handwerkskunst. Es ging immer nur ums nackte Überleben. Deshalb auch die Verbundenheit der Menschen zu ihrer Musik und den Tänzen. Es war das Einzige, was man immer zur Hand hatte und im Notfall mitnehmen konnte.

Überlebenskünstler bis heute

 

 

 

 

Blue Zones Ikaria Verbannte waschen 1947 in Therma ihre Kleider im Fluss, Foto G. Kapetanos erodotos.wordpress.com

Ikaria hatte eine harte und schwere Vergangenheit. Die Lebenshaltung der Vorfahren reicht bis in die Gegenwart und verbindet die Menschen. Traditionen, historische Fakten, die harte Realität und ihre Verklärung verweben sich zu einer eigenen Weltanschauung, in welcher Einfachheit, Gelassenheit, Freisinn, Großzügigkeit und Gemeinschaft die zentrale Rolle spielen. Die Ikarioten sind Überlebenskünstler geblieben, bis heute!

Nach dem 2. Weltkrieg, der Hungersnot und während der systematischen Verfolgung der Kommunisten Ende der 40er-Jahre, wurde die kommunistische Elite der Großstädte in verschiedene „Umerziehungslager“ deportiert oder auf Verbannungsinseln ausgesetzt. Ikaria war eine davon. Dünn besiedelt, schwer zugänglich und weit ab vom Schuss. Zwischen 10.000 und 15.000 Kommunisten, man bedenke, fast doppelt so viele wie die einheimische Bevölkerung, wurden während dem griechischen Bürgerkrieg nach Ikaria verbannt. Die Exilkommunisten, an ein Leben in der Stadt gewöhnt, hatten im rauen Klima auf der abgelegenen wilden Insel kaum eine Überlebenschance.

Die Verbannungsinsel

 

 

 

 

 

Blue Zones Mikis Theodorakis in Ikaria im Exil

Die Ikarioten selbst an ein karges Leben gewöhnt, solidarisierten sich sofort mit den Notleidenden, obwohl ihnen unter Todesstrafe jeglicher Kontakt verboten war. Sie hinterlegten den Verbannten versteckt in den Wäldern Nahrungsmittel, Kleidung und Decken, und so entstand eine innige Freundschaft und reger Gedankenaustausch, welcher bis heute die Insel inbrünstig rot, also kommunistisch wählen lässt. Das hat ihr den Namen „Der rote Fels“ eingebracht, für die Ikarioten ein Symbol dafür sich Ungerechtigkeit zu widersetzen, sich selbst zu helfen und solidarisch mit anderen Notleidenden zu sein.

Mikis Theodorakis, der wohl berühmteste Verbannte, berichtet über sein Exil auf Ikaria: „Warm durchströmt es mich, wenn ich an Ikaria denke. Die Schönheit dieser Insel wie ein Rohdiamant und die einfache Herzlichkeit der Menschen. Sie öffneten ihre Häuser und ihre Herzen für uns.“

Leben im eigenen Rhythmus

 

 

 

 

 

 

Blue Zones Ikaria Panigyri Kochtöpfe Foto simadiatouaigaiou.wordpress.com

So erlebe ich sie auch, die Ikarioten – harte Schale, weicher Kern. Herzliche Menschen, gemütlich, freundlich, im eigenen Rhythmus lebend.

Das Zauberwort heisst: Chalará – Gelassenheit – die Dinge auf sich zukommen lassen. Geprägt von einer Vergangenheit, in welcher nichts sicher, nichts zuverlässig und alles immer auf einen Schlag verloren sein konnte, lernten die Menschen den Moment auskosten. Alles findet in der Gegenwart statt und nur das ist von Bedeutung. Die Ikarioten haben eine ausgeprägte Fähigkeit, sich mit ganz wenig zufrieden zu geben und das Leben trotz all seiner Entbehrungen zu geniessen. Zeit kann man genießen, verschenken, stehlen, totschlagen oder verschwenden. Zeit hat immer genau die Bedeutung, die man ihr zumisst.

In unserer schnelllebigen Gesellschaft ein Unding. Zeit ist Geld! Zeit gewinnen ist zur Religion geworden. Effizienz das Zauberwort. Wir haben gar keine Zeit mehr! Wir sind permanent gestresst. Zeit macht uns krank.

Ikarioten haben ein eigenes Zeitgefühl.

Genauer gesagt, spielt Zeit keine große Rolle. Man nimmt sich einfach die Zeit, die man braucht. Sei es für eine Arbeit oder für einen Schwatz mit dem Nachbarn. Zeit miteinander verbringen ist wichtiger als Zeit gewinnen! Das ersetzt jeden Psychiater.

In Ikaria wird man uralt

 

 

 

 

 

 

Blue Zones Ikaria Ehepaar Foto Turner.com

Das hört man immer wieder. Die Insel der Hundertjährigen, wo die Menschen vor lauter Lebensfreude zu sterben vergessen!

Der Lebensrhythmus der Einwohner Ikarias ist legendär! Man trifft hier viele „alte“ Menschen, die sehr vital und selbstständig sind. In Griechenland und in der ganzen Welt wurde in den Medien viel darüber berichtet!

Dieses Im-Moment-leben und dieses No-Stress-Feeling der Einheimischen haben es in sich. Die alten Menschen (genauso wie die Kinder übrigens), sind stark eingebunden in die Gesellschaft und immer und überall dabei, also kein Grund sich alt und überflüssig zu fühlen.

Genau so wenig wie Zeit, spielt das Alter eine Rolle

Denn das Alter ist nur eine andere Art Zeit zu messen. Die Lebenszeit, intensiv gelebte Zeit ist gewonnene Zeit. Sich die Zeit für das Wesentliche nehmen - das ist wenn du mich fragst, das Geheimnis der Insel der Langlebigen.

Ein Leben nach der Sonnenuhr

 

 

 

 

 

 

 

Ikaria Blue Zones Christos Raches Dorfplatz

Die letzte Bastion der wirklichen Blue Zones ist das Bergdörfchen Raches wo man noch nach der Sonnenuhr lebt. Das hat ihm auch landesweit die Bezeichnung „Asterix-Dorf“ eingetragen. Das Dorf das anders tickt, ein wenig verrückt die Einwohner, liebenswert und eigen. Ein Ort, wo die Rhythmen der Natur noch den Alltag bestimmen. Das zu Christos oder Raches gehörende touristische Badeörtchen Armenistis ist eigentlich nur eine Sommersiedlung der Bergbewohner. Viel wurde über Raches geschrieben, Reporter aus der ganzen Welt drehten Dokus: Alle schlafen tagsüber und feiern die ganze Nacht, so der oft zittierte Mythos.

Aber die Geschäftszeiten sind wirklich ungewöhnlich. Sie richten sich wie gesagt nach der Sonne und nicht nach der Uhr! Um 10:00 Uhr vormittags öffnen alle Geschäfte und bleiben im Hochsommer durchgehend geöffnet bis um 03:00 Uhr!

Am schönsten ist es um die griechische Mittagszeit, also zwischen 12:00 und 15:00 wenn die Hitze am grössten ist, unter den riesigen schattigen Platanen mitten auf dem Dorfplatz einen Kaffee zu trinken und den Griechen beim Tavli zuzusehen. Frauen kaufen ein, die Kinder schlendern nach Schulschluss laut schnatternd durch die Platia. Danach ist Siesta und das Dorf ziemlich ausgestorben. Zwischen Juni und September lohnt sich auch ein Besuch abends nach dem Dunkelwerden. Ich betone Dunkelwerden, denn man richtet sich hier nach der untergehenden Sonne und nicht nach einer bestimmten Zeit.

Am spannendsten sind die Abende aber im Juli-August, der Haupturlaubszeit der Griechen, denn nach 23:00 Uhr erwacht das Dorf erst richtig zum Leben. Überall ist es laut und lebendig, die Tavernen voller Griechen. Man trinkt Tsipouro, den einheimischen Selbstgebrannten oder den berühmten Ikariotischen Wein. Kleine Kinder spielen Fangen zwischen den Tischen, sogar einkaufen kann man noch in den zahlreichen kleinen Geschäften bis in die frühen Morgenstunden. Auch ich habe meinen kleinen Geschenkeladen da und spreche deshalb aus Erfahrung ;-)

Für die Jungen und Junggebliebenen geht´s dann nahtlos weiter in den Cocktailbars bis zum Sonnenaufgang. In Raches kann man wirklich noch die ganze Nacht durchfeiern.

In Ikaria ticken die Uhren anders

 

 

 

 

Blue Zones Die Uhren in Ikaria stehen still

Diese besondere Art mit der Zeit anders umzugehen kannst du in Raches noch ganz unverfälscht erleben. In den kleinen Kaffees oder Tavernen kannst du stundenlang einfach sitzen, ohne ständig gefragt zu werden, ob du noch etwas bestellen möchtest. Es gibt keinen Konsumzwang und die leeren Teller werden auch nicht weggeräumt. Das wäre für die Ikarioten ein No-go, käme einem Rausschmiss gleich. Der Gast bestimmt selbst wie viel Zeit er hier verbringen möchte.

Genauso lange kann es auch dauern, bis ein Gast bewirtet wird. Das hat nichts mit Faulheit oder Nachlässigkeit des Wirtes zu tun, sondern eher mit seinem eigenen Gutdünken, den Gast erst einmal ankommen zu lassen. „Schlecht fürs Geschäft“ magst du einwenden, aber hier gilt eben nicht der Satz „Zeit ist Geld“ sondern eher „Zeit ist Leben“.

Denn sie wissen, Zeit ist wertvoller als Geld, sie ist unwiederbringlich.

Zeit erhält wie schon erwähnt eine ganz eigene Dimension und man darf sie ohne Schuldgefühle auskosten. Vielleicht ist dies der Kern-Gedanke der die Ikarioten so „eigen“ macht und ihnen ein langes wenn auch einfaches Leben beschert.

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