Meine Freundin Edith unterstützte zwei Wochen lang mit einer Volounteergruppe die ankommenden Boatspeople in Lesbos. Sie hat einen Erlebnisbericht verfasst, der unter die Haut geht! Ich werde oft gefragt, ob wir in Ikaria auch Flüchtlinge hätten. Wie ich schon in meinem letzten Post erwähnt habe: Bei uns gibt es keine Flüchtlinge, aus dem einfachen Grund: Ikaria ist zu weit von der türkischen Küste entfernt.

Edith pendelt zwischen der Schweiz und Ikaria. Wir sind seit Jahren befreundet und leiten zusammen die Kulturwoche in Ikaria. Ich bewundere Edith sehr für ihren Mut und ihre Einsatzbereitschaft. Deswegen habe ich ihren eindrücklichen Bericht in meinem Blog gepostet, auch wenn er nicht direkt mit Ikaria zu tun hat. Die Flüchtlingskrise betrifft uns alle!

Menschen auf der Flucht: Hautnah dabei, auf einem kleinen Stück ihres schwierigen Weges

Lesbos Flüchtlinge Ankunft im Schlauchboot

Ich konnte es nicht mehr aushalten, in meinem warmen Haus in der sicheren Schweiz zu sitzen und die Berichte über Flüchtlinge zu hören und zu sehen – so weit weg und doch so nah. Meine Entscheidung, keine Ausreden mehr zu finden und j e t z t zu handeln und einen Flug zur griechischen Insel Lesbos zu buchen, anstatt mich hilflos und nutzlos zu fühlen, war für mich wie eine Befreiung. Ich flog.

Foto: Ankommende Boatspeople im Morgengrauen an einem Strand in Lesbos

Lesbos Hot Spot

Nachdem ich mit meiner Freundin Brigitta fünf Tage als Freiwillige in einer Schweizer Gruppe in Molyvos im Norden der Insel gearbeitet hatte, war es wie ein “Zufall”, Rebecca von der Gruppe „I AM YOU“ beim Frühstück in einem Hotel in der Nähe vom Moria Camp zu treffen. Wir stellten uns kurz und unkompliziert gegenseitig vor und entschieden uns sofort, zehn Tage bei dieser Gruppe mit zu helfen.

Foto: Hot Spot in Lesbos

Lesbos Das Moria Camp

Wir waren dem „Danish Refugee Council“, das für einen Teil der Organisation im Lager verantwortlich war, unterstellt. Das Moria Camp, in dem sich alle Flüchtlinge registrieren lassen mussten, war in einem ehemaligen Gefängnis untergebracht, darum voller Stacheldraht und Eisentore…..keine sehr einladende Atmosphäre.

Foto: Das Moria Camp in Lesbos, ein ausgedientes Gefängnis

Lesbos Flüchtlingsunterkünfte

Nun bin ich wieder zu Hause. Hinter mir liegt eine extrem intensive, schöne, aufrüttelnde, gute und traurige Zeit. Die Schicksale der Menschen, das totale Vakuum, in dem sie sich nun befinden, ihr Leid und Schmerz, all diese tiefen Eindrücke haben mein Leben auf den Kopf gestellt. Es wird nie mehr so sein wie es war. Die Intensität machte aus Wochen Jahre. Die Rückkehr in den luxuriösen Schweizer Alltag ist eine enorme Herausforderung und ich nehme mir viel Zeit, um zu versuchen, meine Eindrücke zu „verdauen“ und meinem Alltagsleben wieder eine Bedeutung zu verleihen.

Lesbos Flüchtlingsunterkünfte Container Innenansicht

Es liegen Welten zwischen dem Anschauen von Filmen und der realen Situation, in der ich mich plötzlich bewegte. „Flüchtlinge“ haben Gesichter und Geschichten bekommen. Die Augen dieser Menschen, die vor Terror, Krieg und Verfolgung fliehen mussten, werde ich nie mehr vergessen.

Foto: Lesbos Flüchtlingsunterkünfte Container Innenansicht

Lesbos Edith und ein gerettetes Flüchtlingskind

Zusammen mit vielen verschiedenen Freiwilligen aus der ganzen Welt kümmerte ich mich um diese verängstigten und durchnässten Menschen, die in überladenen Gummibooten bei unruhiger See in schwarzer Nacht ankamen. Oft wurden sie von türkischen Schleppern gezwungen, entweder zu verhungern oder jetzt, auch bei schlechtem Wetter, (Schlechtwetterrabbat € 1000/Person, anstatt € 2000) loszufahren. Nicht selten wurden ihnen vorher noch ihre Babies abgezweigt und Gepäck ins Meer geworfen. Wir „Nicht-Flüchtlinge“ bezahlen für die gleiche Strecke auf einer sicheren Fähre € 5 – 10!

Foto: Edith mit einem geretteten Flüchtlingsbaby

Lesbos Gespendete Kleider für die Flüchtlinge sortieren

Was für ein Erlebnis, frierende, nasse Babys, Kinder und Erwachsene willkommen zu heißen, an irgendeinem Strand, auf irgendeiner Insel. Nicht selten meinten die Menschen, sie seien in Athen. In diesen verwirrenden Momenten war keine Zeit um nachzudenken. Wir mussten einfach handeln und so viel helfen, wie wir konnten: trockene Socken und Hosen verteilen und anziehen, die Menschen in Notdecken (Silberfolie) einpacken, Nahrung, Spielzeug und Wasser geben, beruhigen und ab und zu Menschen einfach wortlos in den Arm nehmen, bevor sie von einem Bus der UNHCR abgeholt wurden, um sie in das Lager zur Registrierung zu bringen. Seit Anfang Jahr haben 340 Menschen diese waghalsige, 10 km lange Reise übers Meer nicht geschafft, ihre Hoffnung auf ein besseres Leben endete mit dem Tod. Mir fehlen die Worte.

Foto: Lesbos Gespendete Kleider für die Flüchtlinge sortieren

Lesbos Edith und ihr Freiwilligen-Team

Ich half, Strände voller Wrackteile und Rettungswesten zu säubern, eine sehr anstrengende Arbeit. Sie war wichtig, wollten wir doch den Bewohnern auf Lesbos helfen, ihre schöne Insel in ferner Zukunft wieder für Touristen attraktiv zu machen Jeden Morgen putzte ich Zelte und einfache Hütten im Moria Camp, half frierenden Flüchtlingen trockene Kleidung und Decken zu finden. Tagelang machte ich mit einem Arzt die Runde, um ernsthaft Erkrankte zu eruieren. Wir verteilten Schmerz- und Lutschtabletten. Husten, Kopfweh und Halsschmerzen waren an der Tagesordnung.

Foto: Edith und ihr Freiwilligen-Team

Lesbos Edith und zwei Flüchtlingsfrauen

Oft liefen mir die Tränen einfach herunter, so viel Elend war schwer zu ertragen! Wenn Freiwillige meine Tränen sahen, fragten sie: „Ist das dein erster Tag hier? „Nein“ sagte ich, „aber es gibt Tage und Situationen, an die ich mich nie werde gewöhnen können“. Ich habe kaum je Flüchtlinge weinen sehen, das haben sie schon lange aufgehört.

Foto: Edith und zwei Flüchtlingsfrauen

Könnte ich das selbst schaffen, ohne mein Haus zu leben, ohne mein Land, meine Gewohnheiten, meine eigene Kleidung, oft mit nur sehr wenig Essen, ohne Geld, ohne Toilettenpapier, ohne Seife, keine Cremes, keine Zahnpasta, keine Dusche? Tod, Krieg, Angst und Unsicherheit in meinem Rucksack? Von Polizei und anderen, mir fremden Menschen abhängig? Und könnte ich immer noch so höflich, freundlich, sehr geduldig und lächelnd sein, wie ich es bei den meisten dieser Menschen sah? Ich weiß es nicht, ich habe keine Antwort. Ich bin einfach von so viel Wärme und Würde beeindruckt!

Von den vielen schönen, berührenden Begegnungen mit Menschen auf der Flucht greife ich eine heraus, die ich nie vergessen werde:

Lesbos Edith und die Flüchtlingsfamilie

Es ist ein kalter, stürmischer Tag, es regnet heftig und ununterbrochen. Die großen Fährschiffe von Mytilene nach Piräus fahren wegen des Wetters schon seit zwei Tagen nicht mehr. Tausende Menschen bleiben im „Dome“ stecken, einem riesigen, alten, leeren, gedeckten Schwimmbecken neben dem Hafen. Überall liegen oder sitzen durchnässte Menschen auf dem kalten Boden. Verschiedene Organisationen und Freiwillige verteilen Essen, Babynahrung und Decken, es ist ein Desaster. Wir kaufen Besen, um all den Müll zu beseitigen (denken wir an das Ende eines Open-Air-Festivals in der Schweiz!) und Rollen von Abfallsäcken. Sie zu verteilen, ist ein Hit. Die Leute sind dermaßen dankbar für einen Abfallsack, um darauf zu sitzen oder sich zu bedecken, es ist unglaublich. Ich schäme mich, dass sie sich für so eine „Kleinigkeit“ herzlichst bedanken.

Foto: Eine Flüchtlingsfamilie, der Vater war einem Nervenzusammenbruch nahe, deshalb nahmen wir sie für 2 Nächte ins Hotel bis das Schiff nach Athen fuhr

Ein verzweifelter Mann zeigt mir seine aufgeweichten Schuhe. Er friert schrecklich. Ich bedeute ihm, mir zu folgen. Reden können wir nicht: „me no Farsi, me no Englisch.“ Er hilft mir, Reinigungsmittel zum Auto zu tragen und bleibt in meinem Auto sitzen, um zu warten, so wie ich es ihm bedeutet habe. Glücklicherweise finde ich ganz in der Nähe des Parkplatzes ein Schuhgeschäft. Ich hole den Mann und wir rennen durch den Platzregen zum Laden und es ist… wie Weihnachten. Wir finden für ihn schöne Wanderschuhe, trockene Strümpfe und einen Regenanzug. Der Weg, den er vor sich hat, ist noch lange und unbekannt, denke ich bei mir.

Lesbos Ausgerüstet für den weiten Weg vor ihm

Dieser Mann aus Afghanistan, dessen Name ich nicht kenne, ist sooooooo glücklich! „Mama“ sagt er zu mir, „you Mama.“ Ohne viele Worte gehen wir zum „Schwimmbecken“ zurück. Ich signalisiere ihm, niemandem davon zu erzählen. Er versteht sofort. Wir sehen einander an, wissend, dass wir uns nie wiedersehen werden, lachen und geben uns die Hand. Und schon verschwindet er unter Hunderten von Menschen.

Diese Hilfe ist ein Tropfen auf den heißen Stein, aber so wichtig und wertvoll. Mit dem Geld, das mir Schweizer Freunde mitgegeben hatten, machte ich wenigstens einen Menschen glücklich.

EINEM MENSCHEN ZU HELFEN VERÄNDERT WOHL NICHT DIE GANZE WELT,
ABER ES KANN DIE WELT FÜR DIESEN EINEN MENSCHEN VERÄNDERN.

Es werden überall Freiwillige gebraucht. Einen Volunteer-Einsatz kann ich allen von Herzen empfehlen. Die Atmosphäre ist international und absolut herzlich, man fühlt sich wie in einer grossen Familie. Eine schöne, tragende Erfahrung, Lebensschule!

Die Links zu den Volounteerorganisationen :

Lesbos Edith im Flüchtlinscamp

Meine Freundin Edith Bühler Jud war im Januar 2016 für 5 Tage mit einer Schweizergruppe und weitere 10 Tage mit der schwedischen Volounteergruppe „I AM YOU“ auf der griechischen Insel Lesbos um die ankommenden Boatspeople zu unterstützen. Sie hat einen Erlebnisbericht für „I AM YOU“ auf Englisch verfasst, Diet Simon hat ihn für uns ins Deutsche übersetzt. Ich habe ihn für unseren Blog überarbeitet und mit Fotos von Edith bestückt.

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