Prosa, teils witzig, teils abgründig über unseren Alltag in Ikaria, der Insel der Hundertjährigen, von den Verflechtungen der Beziehungen, vom Glück, der Liebe und der unerschütterlichen Lebensfreude dieser Menschen. Ich habe eine ganze Reihe kleiner Inselgeschichten geschrieben. Die Links dazu findest du weiter unten.

Land zu verkaufen, verbleichte Schrift

Die Krise hat viele Gesichter – ein Jahr später…

Heute Morgen ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Angst! Er hat Angst. Noch lange ging mir gestern Abend vor dem Einschlafen unser Gespräch durch den Kopf.

„Das Internet ist schuld an allem. Es ist ein Teil ihres Plans, des Kapitalismus, uns alle ruhig zu stellen, vor einem Bildschirm zu parkieren, hineinglotzen, konsumieren.“ Der Kühlschrank in der Ecke gurgelte leise. „Kein Geld, keine Sorgen. Alle sitzen zuhause vor einer Kiste und vergessen die Wirklichkeit.“ Bedächtig zündete er sich eine Selbstgedrehte an. Maria hinter der Theke wusch die Gläser und füllte Holz in den Kanonenofen. Draußen war es düster und der kalte Wind fegte die gelben Platanenblätter über den einsamen Dorfplatz.

„Keiner kommuniziert mehr mit dem anderen. Sieh dir unseren Dorfplatz an! Keine Menschenseele unterwegs, dabei ist es erst neun!“ Er schnaubte. „Alle sitzen zuhause vor einer Kiste. Genau das ist es, was sie wollen.“ „Sie?“ frage ich vorsichtig. „Die Regierung, das System, der Kapitalismus.“ Ungläubig und etwas belustigt schaue ich ihn an. Also diese Schiene. Hätte nicht gedacht, dass er, ein gestandener Mann in meinem Alter, politisch kritisch, drei fast erwachsene Kinder, eine nette Frau und ein eigenes Geschäft, mit dieser KKE Laier kommt. Er zog an seiner Zigarette und nahm einen Schluck. „Das ist eben unsere Zeit.“ Entgegnete ich lakonisch. War das nicht überall so? „Kein Austausch, keine Meinungsverschiedenheiten… kein Widerstand.“ Seine Augen funkelten. „So können sie mit uns machen, was sie wollen, wir bemerken es nicht einmal!“

„Ich denke, dasselbe macht das Fernsehen.“ Entgegnete ich hoffnungsvoll. „Fernsehen gibt’s schon seit vielen Jahren. Man saß zusammen, schaute eine lausige Sendung an und lachte darüber. Aber heute ist das anders. Jeder sitzt allein vor seiner eigenen Kiste.“ Hat was.

„Kóstas schaut Fussballspiele und Argýris spielt Lotto um Geld, Pétros schaut Porno, Iríni Musikvideos bis morgens um drei, Eléni  Dokumentarfilme und Athiná füttert Tiere auf einer Comicsfarm.“ Ganz Unrecht hat er nicht. Alles erwachsene Menschen, jeder in seiner eigenen Wirklichkeit. „Aus Menschen werden Schafe.“ „Vangélis sitzt abends nur noch in seinem Zimmer und spielt.“ María wischte sich die Hände an ihrer Jeans und gesellte sich zu uns. „Vangélis ist vierzehn, was sollen die Jungen? Abends ausgehen?“ frage ich. „Nein die Jungen kennen nichts anderes mehr. Wenn mal der Strom ausfällt sind sie aufgeschmissen. Die könnten ohne Internet gar nicht mehr überleben. Aber unsere Generation hat buchstäblich den Löffel abgegeben.“

Ich lese meinen Bericht vom letzten Jahr und überlege, was sich seither verändert hat. Dimítris Frau habe ich schon lange nicht mehr in Ikaria gesehen, eigentlich nur einmal ein paar Tage im Sommer, mit Perücke und fahler Haut. Lénas Sohn hat seine Lehrerstelle in Patras inzwischen verloren und ist auch zu den Eltern nach Ikaria gezogen. Nun sind sie fünf Erwachsene und zwei Kleinkinder im gleichen Haushalt, von der Rente der Eltern lebend.

Die Menschen haben kein Geld und gehen nicht mehr vor die Haustüre. Eigentlich nichts Neues. Aber diesen Winter ist es unheimlicher als je zuvor, als wäre die Krise erst jetzt so richtig über Ikaria hereingebrochen.

Aber warum ist Stelios so wütend auf das Internet? Internet gibt es überall. Das ist nun mal unser Zeitalter. Plötzlich wird es mir klar. Wut auf den Kapitalismus, Wut auf das System, das uns zu Schafen macht, Wut bedeutet eigentlich Angst. Angst und Hoffnungslosigkeit. Das ist das Schlimmste. Die Menschen kommunizieren nicht mehr. Das ist es, was Angst macht. Sie tauschen sich nicht mehr aus. Keine Worte. Keine Meinung. Das ist schlimmer als kein Geld! Stelios hat irgendwie recht.

Es ist überall so gespenstisch still, als würden die Menschen schweigend ausharren, abwarten, was als nächstes kommt. Vor einem Jahr war es überall trotz Krise laut und lebendig. Es ist nicht das fehlende Geld, es ist mehr die Stimmung, die Atmosphäre der Resignation und Hoffnungslosigkeit, die spürbar, greifbar geworden ist.

Trotz allerorts lautstark gepriesenem „griechischem Wirtschaftswachstum“ ist die Angst der Menschen gewachsen. Der ENFIA, die neue Grund- und Liegenschaftssteuer hat alle in die Knie gezwungen. „Womit soll ich diese Steuer bezahlen, für ein Stück Land mit einem alten Steinhaus ohne Dach, und von dem ich keinen müden Cent einnehme? Was bleibt mir anderes, als das Land meiner Vorfahren zu verkaufen?“

Viele sind über den Winter in die Stadt geflohen, die Häuser sind verriegelt. Sogar Thodorís, mein Nachbar, der Filmstar aus „Little Land“ ist zum Überwintern nach Frankreich ausgeflogen. Und diejenigen, die hier geblieben sind, haben sich verschanzt. Die Platia ist unwirklich still geworden.

Diese Geschichte ist natürlich, wie alle meine anderen, erlogen und erstunken, wie liebe ich doch die Kunst des Fabulierens, verwoben mit meinen Ein- und Ansichten, aber wie immer inspiriert von den Begegnungen und Begebenheiten mit den eigenwilligen, liebenswerten Menschen und der wundervollen Insel, die mich umgeben.

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