Ich bin ein bisschen aus der Übung. Ist schon lange her, dass ich Liebesbriefe geschrieben habe und schon gar nicht habe ich Erfahrung darin, meine Liebe öffentlich zu machen. Aber jetzt muss ich es tun. Ich bin schon lange verliebt und jetzt ist der Moment gekommen, dass ich mich öffentlich erkläre, mich zu ihr bekenne und mich mit ihr auf den Marktplatz stelle. Ich sage JA zu Ikaria – Ja zu Ikaria, mon amour.

Man kann sich ja heutzutage in viele und vieles verlieben, man kann in vielfältigster Form eine Lebensgemeinschaft eingehen. Ich habe mich entschlossen, eine Insel – noch dazu eine griechische – heiß und innig zu lieben. Ich glaube, dies ist eine Liebe, von der ich mich nicht mehr scheiden möchte, eine Liebe, die mich noch sehr weit tragen wird, eine Liebe, die mich nähren wird – auch in dunklen und in schlechten Tagen.

Nein, es ist jetzt nicht an der Zeit, meine heiße Stirn zu fühlen und besorgt den Arzt zu rufen. Vielmehr ist es an der Zeit, Google-maps aufzurufen und nach der Insel zu suchen. Meine Liebe ist zwar in einigen Kreisen gut bekannt, vor anderen versteckt sie sich aber noch gern. Wenn man bei Google noch den Begriff „Ikaria – blue zone“ mit angibt, dann hat man gute Chancen, Ikaria zu entdecken. Dort wird man erfahren, dass sich die Insel in der Ägäis, in der Nähe von Samos befindet, 3.000 Einwohner hat und für viele Dinge berühmt ist: seine lokalen Feste, die Langlebigkeit seiner Einwohner, seine etwas bizarr anmutenden Lebensgewohnheiten. Das ist alles sehr schön aufgeschrieben und die Bilder dazu sind auch wunderbar. Aber es beschreibt meine Liebe nur unzureichend. Ikaria ist ein ganzheitliches Erlebnis. Ich muss Ikaria riechen, anfassen, hören, schmecken, sehen – und erst wenn ich wieder zu diesen Sinnen gekommen bin, kann ich beginnen, die Insel ein bisschen zu beschreiben. Aber in welcher Sprache? Welche Sprache gibt mir das ausreichende Vokabular – die mächtigen und die feinen Wörter -, damit ich meine Liebe beschreiben kann? Die Sprachen, die ich spreche, scheinen mir nicht ausreichend, vielleicht kann nur Griechisch die allumfassende Sprache sein, aber die spreche ich bisher nur unzureichend. Also, wie anfangen? Vielleicht am Besten mit meinem Grundgefühl:

Ikaria ist mein Antipode. Die Insel, die Leute dort, das Leben – vieles ist der absolute Gegensatz zu meinem Alltagsleben, zu meiner Erziehung, zu meinem sozio-kulturellen Hintergrund. Ich bin Deutsche, in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen und habe lange in Potsdam, der preußischsten Stadt aller deutschen Städte, gelebt. Das prägt. Und dann bin ich 2006 im Urlaub durch Zufall auf der Insel Ikaria gelandet, genauer gesagt in Agios Kirikos. Im Nachhinein betrachtet, war es Schicksal und ich verdanke diese Wende in meinem Leben einer klugen Frau auf Lesbos. Ich hatte sie gefragt, welche Insel sie mir für die Weiterreise empfehlen könne. Sie schaute mich lang und ruhig an und meinte dann: „Ikaria“. Ich wüsste gerne, was sie damals in mir gesehen hat….

Auf jeden Fall bin ich dort angelandet und mein erster Weg führte mich in das Kafenion „Casino“, damals noch im typisch griechischen Outfit. Ich saß dort stundenlang über meinem Kaffee und war vollkommen orientierungslos. Um mich herum wilde Kerle mit langen Bärten, langen Haaren und dunklen Sonnenbrillen, die laut durcheinander redeten. Alte Leute, die mit dem Moped in diese kleine Stadt, eher Häuseransammlung, kamen, ihren Geschäften nachgingen, um dann auch im Kafenion anzulanden. Junge Leute, mit Schlafsack und Rucksack ausgestattet, bunte Kleidung, die versuchten per Autostop auf die andere Seite der Insel zu gelangen. Ich fühlte mich in einen anderen Kosmos gebeamt, dessen Regeln ich nicht verstand. Ich hatte widersprüchliche Gefühle: sofort weg oder länger bleiben. Meine Neugier siegte. Ich fand ein Hotel und da ich viel fotografiere, zog ich mit der Kamera über die Insel. Wir tasteten uns aneinander heran. Wir waren uns sehr suspekt. Ich war den Leuten suspekt: da ist eine Frau alleine unterwegs, fotografiert ständig und offenbar gehört sie hier zu keinem Mann. Die Leute waren mir suspekt, da sie oftmals so finster blickten und es mich immer etwas Überwindung kostete, sie anzusprechen. Aber irgendwann begann das Eis zu schmelzen. Wir gewöhnten uns aneinander. Im „Casino“ wusste man bald, wie ich meinen Kaffee trinke: doppelter griechischer Kaffee, schwarz und ungesüßt. Ich traute mich, Leute anzusprechen und um die Möglichkeit für ein Foto zu bitten. Denn auf der Insel gibt „richtige Gesichter“. Viele Menschen fühlten sich geschmeichelt und wir kamen ins Gespräch. So habe ich viel über die Lebensgeschichten der Leute erfahren – die Geschichten hinter den Falten und den zahnlosen Mündern. Und je mehr ich mit diesen Leuten zusammen saß, Kaffee oder Ciepero trank, desto beeindruckter war ich. Es waren und sind Geschichten von mutigen und selbstbewußten Menschen, die irgendwann – als es keine Möglichkeit mehr gab, auf der Insel Geld zu verdienen – den Seesack genommen haben und nach Amerika, Australien oder Kanada aufgebrochen sind und sich in allen möglichen Jobs verdient gemacht haben. Menschen, die wieder zurück gekommen sind, weil die Insel sie gerufen hat. Die Insel mit ihren rauen Küsten und versteckten Stränden, mit diesem unbeschreiblichen Farbspiel des Meeres in der Abendsonne. Die Insel mit ihren eigenen Zeitregeln, ihrem ruhigen, gleichmäßigen Rhythmus. Die Insel mit ihrer Wildheit und allumfassenden Liebe zum Leben, die man vielleicht am Besten erfassen kann, wenn man auf einem Dorffest, einer Panagyria, den Ikariotiko mittanzt.

Diese Geschichten, aber insbesondere das eigene Erleben der Stille, der Gemeinschaft auf der Insel haben mich innerlich tief berührt. Im ersten Jahr konnte ich es nicht genau definieren, was da passiert ist. Ich wusste nur, ich muss da wieder hin. Ich wollte mehr erfahren, denn ich wusste, wenn ich mehr über die Insel erfahre, werde ich auch mehr über mich erfahren. Also bin ich wieder gekommen. Jeden Sommer, immer nur für eine kurze Zeit, habe den Geschmack und den Duft aufgenommen, habe mich an den Festen gefreut, habe Lebensenergie aufgetankt …. und dann war ich wieder weg. Dachte mir, dass ich noch andere Inseln und Orte kennen lernen muss und habe Ikaria daher immer nur wenig Zeit gegeben. Einige Jahre bin ich gar nicht gekommen. Ich habe an anderen Stränden gelegen, die Geschichten anderer Menschen gehört, aber immer wieder war da diese Sehnsucht. Nur manchmal habe ich die inneren Fragen zugelassen: what the hell am I doing here? Why am I sitting here and not on Ikaria? In 2012 bin ich dann wieder gekommen. Vorsichtig habe ich wieder Kontakt zu den Leuten aufgenommen, sie erinnerten sich noch an mich und fragen erstaunt: wo bist du die ganze Zeit gewesen? Ich bin wieder mit der Kamera losgezogen, habe mitten auf der Küstenstraße angehalten, um mich an dem intensiven und typischen Duft der Insel zu erfreuen. Jedes Mal konnte ich tiefer und freier atmen. Jedes Mal konnte ich freier lachen. Jedes Mal fühlte ich mich lebendiger. Und letztes Jahr wusste ich plötzlich: ich will mehr davon. Ich will jetzt nichts anderes. I want to dig deeper. Ich will diese Insel ganzheitlich erfassen, nicht nur diese Sommer-Sonnen-Touristen-Seite im August. Ich will wissen, wie sie im Herbststurm lebt, ich will ihre Schönheit im Winter erkunden, ich will wissen, wie sie den Frühling begrüßt. Also habe ich meiner Liebe Zeit und Raum gegeben. Ich habe mir eine kleine Wohnung in Agios Kirikos gemietet und ich komme jetzt immer öfter. Ganz kann ich mich noch nicht auf sie einlassen, dazu fehlt mir noch der restliche Mut, aber ich habe mich für sie entschieden. Ich bin schon öfter im Leben meiner Liebe hinterher gezogen. Aber dieses Mal ist es anders. Es gibt dieses ruhige Einverständnis, dass wir uns miteinander Zeit lassen, dass wir uns nicht verbiegen werden, sondern dass wir uns im Rhythmus der Insel aufeinander einlassen werden. Das ist echt anspruchsvoll. Ich bin immer wieder aufgeregt, wenn ich sie besuche. Das Herz klopft und der Kopf rast. Wie wird sie mich empfangen? Bin ich ihr gewachsen – ihrer Kälte und dem Regen im Winter, der Einsamkeit an den langen dunklen Novemberabenden, wo kein Einheimischer vor die Tür geht? Halte ich ihren Trubel aus, wenn in den Sommermonaten meine Lieblingsplätze übervölkert sind und ich kaum noch Rückzugsorte habe? Bisher schaffe ich das. Es ist nicht einfach. Meine Liebe stellt mich vor große Herausforderungen, aber sie bereichert mich unendlich. In ihren Armen wachse ich zusammen, sie ist meine beste Medizin und geduldige Lehrerin. Sie bringt mich zurück zur Natur, sie lehrt mich natürlichen Lebensrhythmus, sie lehrt mich tiefe Freude, wenn ich bei einer Panagyrie alte und junge Menschen gemeinsam tanzen sehe – Liebe und Lebensfreude ganz im Hier und Jetzt. In diesen Momenten weiß ich: Ich brauche nicht viel, ich brauche – Ikaria, mon amour.

Birgit Urban

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