Beim Stöbern im Netz bin ich auf diesen schon etwas älteren aber nichts desto Trotz spannenden Artikel und immernoch aktuellen über Ikaria gestossen. Ich staunte nicht schlecht, als ich mich sogar namentlich darin erwähnt fand! Alex von Roll gibt einen schönen Einblick in die Lebensumstände der Ikarioten, die Rolle der Frauen, den Vergleich zu den Nachbarinseln und besonders spannend, die Bedeutung der politischen Exilanten, welche er in einem übersichtlichen Geschichtsabriss von Byzanz, über die Sultane, die Zeit der Piraten bis in die neuere Geschichte beschreibt. Beim Lesen werden die Zusammenhänge klar und ich stelle fest: Die rote Insel hat sich nicht allzu sehr verändert.
Die rote Insel
Ikaria, eine Entdeckung im Meer der Abgestürzten. Jahrzehntelang war die Insel vom Geldstrom aus Athen abgeschnitten, weil sie die linken Verbannten aus dem Bürgerkrieg unterstützte. Die Rückständigkeit ist ein eindeutiger Vorteil.
■ Alex von Roll, Text und Bilder
Noch nie hat mich eine Insel so in den Bann geschlagen wie Ikaria in den Sporaden nahe der kleinasiatischen Küste, die Insel, auf die byzantinische Kaiser, osmanische Sultane und griechische Obristen die Missliebigen und Aufmüpfigen in Verbannung schickten. Warum Ikaria seit der Antike von den Mächtigen so stiefmütterlich behandelt wird, ist ein Rätsel, zu dem man eine Antwort wohl nur erfinden kann. Zehn Tage haben mir nicht gereicht, es zu lüften.
Besonders schön ist die 40 Kilometer lange und 15 Kilometer breite Insel in Sichtweite von Samos ja nicht. Die Inseln, auf die die Touristen so gerne hinfliegen, haben alle mehr landschaftliche Reize, eindrücklichere Baudenkmäler und eine bedeutendere Geschichte. Doch sie haben deutlich weniger Charakter. Der aber erschliesst sich nicht auf Anhieb.

Auf den Geschmack der Insel bin ich am zweiten Tag gekommen, als ich von der Küste durch eine Schlucht zwei Stunden in die gebirgige Insel hochstieg und auf Christos Raches stiess, eine der drei grössten unter den vielleicht vierzig Ortschaften der Insel, die einzige der drei, die nicht am Meer liegt, und selbstverständlich die Schönste. Wer um acht Uhr abends in das gemütliche Dörflein kommt, findet einen ausgestorbenen Ort. Das Leben beginnt erst um neun, wenn die Leute nach der Arbeit auf den verstreuten kleinen Höfen mit den dicht bewachsenen Terrassen ins Dorfzentrum kommen. Dann öffnen die Geschäfte und Tavernen, die Kinder spielen, man tratscht und isst und diskutiert bis weit nach zwölf, ein Unikum, dem sogar die grossen Medien auf dem Festland hie und da eine Geschichte widmen. Das Gallierdorf in den ikariotischen Bergen, das den Sitten trotzt.
«Mon âme est un trois-mat, cherchant son Icarie.» Meine Seele ist ein Dreimaster auf der Suche nach seinem Ikaria, schrieb Charles Baudelaire in seinem Gedicht «Le Voyage». Zu hören bekam ich diesen wunderbaren Satz vor dem kleinen Kloster Theoktitis, dessen Zellen sich unter riesige Monolithen ducken. Ich sass da und staunte, da tauchte aus dem Gebüsch eine ältere, allein reisende Dame auf, mit der sich bald ein anregendes Gespräch entwickelte. Es begann damit, dass die pensionierte Griechischprofessorin aus Besançon Baudelaire rezitierte, u.a. auch den Vers mit dem Dreimaster, der sein Ikaria suchte. Was mochte das für ein Ikaria sein? Ein Ort, an dem die Seele so hoch fliegt, dass sie von der Sonne verbrannt wird? Die letzte, mit einem Absturz endende Lebenswirklichkeit? Die Dame wusste mehr: Ein Zeitgenosse Baudelaires habe eine sozialistische Utopie mit dem Titel «Icarie» veröffentlicht, die vielleicht gemeint sein könnte.
Die noch spärlichen touristischen Einrichten haben sich an den meist steilen und unfruchtbaren Ufern angesiedelt und führen dort ein Eigenleben. Das wahre Leben der Insel findet in den Dörfern in der Höhe statt. Das hat einerseits mit der Landwirtschaft zu tun – noch immer der wichtigste Erwerbszweig der Ikarioten – und andrerseits mit den Piraten, die während Jahrhunderten ein normales Leben auf Ikaria verunmöglichten.


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